WORTGEWEBT


1989

Wir faßten die Hände
und jubelten
über den zerschnittenen
Stacheldraht
trieb der Wind
Herzfetzen

wir halten uns fest
am Zaun
wie gut
wir es hatten!

aus den zerstürzten
Mauern
entläßt die Vergangenheit
Zukunft

die Fahne
der Freiheit weht
Angstsegel
Boot voller Tode
wir jedoch schreiten
den Zaun
entlang


2021

die süße Stimme
der fröhlichen Bosheit
die Tugend des Lügens
die tägliche Dosis Gift

das Gegengift Wahrheit
ist sonderbar bleich geworden
in den feinen Netzen der Mächte

der wirkliche Mut
heißt Nawalny


ABENDSPAZIERGANG IN ROSENBURG

das letzte Licht
geht über die Felder
Himmel und Erde
aneinandergeschmiegt
warten

Horizontschleier brennen
feiern Rot
mit den Schwarzföhren
die Steine am Weg
schweigen mit Silberstimme
die Abendfreude


AN DER GRENZE

ockergelb
fühle ich
den Herbst kommen

rot ist die Linie
auf der ich gehe
mit waagrechten Armen
wie ein Kind wandert
die imaginäre Grenze
entlang
ein Schritt daneben
bedeutet Schwärze
und Tod
das Zwischenreich Rot
ist eng
wie ein leuchtender Faden
gefaßt vom Licht
wie der Wolkensaum
dahinter
der bedrängte
dunkle Himmel

ockergelb
fühle ich
den Herbst kommen


ERBEN

wir haben
das Schweigen
geerbt

es lebt
in der Erde
der Stirngärten
heimlich gekeimt

Schatten vor unseren Füßen
Luft in den Augen

das Tränensalz
trocknete längst –
würzt unser Brot


GEGEN DIE ANGST

essen
trinken
schlafen
lesen
zeitungsverlesene
Vergitterungsinformation

und
Stacheldrahtspinnen
legten längst
die Netze aus
verschützt und
Tränengas- Panzer- Gedanken
schreipapierene Drachen

vielleicht aber
doch lebendig


GESCHENK

die falsche Zeit
zerschlägt
das Uhrenhaus

der Vogel schweigt

das Holzpferd lächelt-
in die Stadt hereingezogen
wartet es
auf seine Stunde


GOBELIN

ich webe
das Wort
zu Stoff
suche seine Farbe
es wird Ort
wärmt die Wand
wärmt
das Auge


HELP US

steht auf der Papptafel
die das Kind
hochhebt

HELP US
schreien
die Ausgesperrten
ein alter Mann
am Stacheldraht
sieht müde aus


JULI IN ROSENBURG

mohnseidenrot
gesäumt
ist der Sommerweg

margaritengefiedert
trage ich
Gedanken
nachhause

die trockenen Wiesen
riechen
nach Sonnenhaar
der durstige Nußbaum
wirft
grüne Perlen
zu Boden


KASSANDRA

Kassandras
Stimme
ruft

ihr Wort
kreist
wie ein Vogel
über unseren
Köpfen

wir
legen
den Pfeil
an


KRIEGSGEBOREN

Luftwurzeln geschlagen
verankert
im Sturm

Wiegenlieder im Keller
die Muttermilch
schmeckte nach Angst
und nach Hoffnung

wie dunkel
das Licht war
zwischen den Engeln:
einer bewahrte
einer schlug

aus den Blumen
fiel Schnee

auf den Stirnen
wuchs
ein unsichtbares Zeichen
kein Schweigen
löscht seine Spur
kein Reden

nur die Toten
können es lesen


MEDITATION

mein Boot
im Zeitschatten
ruht auf
den Wellen
steht still
im Wind
nur mein Atem
bewegt es
leis
auf und ab
im Rhythmus
des Herzens

so schwebt es
im Universum


PENELOPE

Penelope
ist die Frage
nach Zeit
Raum
und Liebe

aus den geduldigen
Fingern
rinnt der
Wollfaden
Zeit
verdichtet
zu Leben
Gewebe
abendlich entlöst
nächtens befreit
die gedichtete Wolle
Liebe
steht im Raum
wie ein umrandeter Kreis

färbe deine Wolle rot
Penelope!
und der Kreis
wird aufbrechen
wie eine
reife Schale


WORT

ich habe
in den Sand
geschrieben
am Ufer
zwischen Steinen
ein Wort
zwischen
gestern
und morgen

wissend
daß die nächste
Welle
es löscht:
einsames Zeichen
Augenblick
dann
im grauen Fluss

und gewesen

Publikation: Franka Lechner, Wortgewebt – Gesammelte Gedichte, edition pen Löcker, Wien, 2022, ISBN 978-3-99098-139-9, loecker-verlag.at/produkt/wortgewebt/